(Ich habe meine erste Kurzgeschichte "Dubrowka" aus dem Juni 2007 nun das erste Mal überarbeitet. Über konstruktive Kritik würde ich mich sehr freuen.)

Dubrowka

Manchmal begegnet man Menschen, die man das ganze Leben lang behält. So geschah es auch Olena.

17. Oktober 2002

Olena und ihre Freundin Nadeschda sitzen im Cafe Tolstoi in ihrer Heimatstadt Moskau. Sie haben sich lange nicht gesehen. Olena studiert seit zwei Jahren in St. Petersburg Wirtschaftswissenschaften und Nadeschda lebt in Sibirien mit ihrem Mann, der dort als Soldat stationiert ist.
Früher, als sie noch in Moskau gemeinsam zur Schule gingen, waren sie unzertrennlich. Doch mit der Reife der Zeit hat sich dieses Band gelockert und darüber ist Nadeschda sehr enttäuscht: „Weißt Du, Olena?“ sagt Nadeschda, „Unsere gemeinsame Zeit vermisse ich sehr!“
„Ja du hast Recht! Ich hoffe, dass wir bald mit unseren Familien wieder in Moskau leben können, dann werden wir so viel Zeit wie möglich gemeinsam --“, Olena wird unterbrochen:
"Entschuldigen sie, ist der Stuhl an ihrem Tisch noch frei? Wissen sie, das Cafe ist voll und dies ist der einzige noch freie Platz."
Ein junger Mann, vielleicht Anfang 30, sportliche Figur, schaut die beiden Damen mit charmevollen Augen an.
"Selbstverständlich, setzen sie sich ruhig." sagt Nadeschda und nimmt ihre Handtasche, die auf dem Stuhl lag, auf ihren Schoß.
"Vielen Dank! Ach ja, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Boris Tschechow." entgegnet der fremde Herr selbstbewusst. Er reicht Olena und Nadeschda die Hand und breitet die Zeitung "Wedomosti" mit weiten Armen vor sich aus, während er sich hinsetzt.
Nadeschda und Olena blicken sich verstohlen an, ganz so wie früher in der Schulzeit. Nadeschda merkt, dass Olena den Fremden sehr anziehend findet und lächelt sie mit großen Augen an. Beide fühlen sich plötzlich wieder wie Teenager.
-Boris Tschechow-, denkt sich Olena. Ein Name wie ein Baum. Sie träumt.

Nadeschda blickt auf ihre Uhr und platzt heraus: "Mist, ich komme zu spät, meine Tante hat mich zum Essen eingeladen, ich muss sofort los."
"Warte, ich komme mit." erwidert Olena, aus ihrem kurzen Tagtraum erwacht. Beide trinken ihren letzten Schluck Kaffee aus, ziehen sich ihre Mäntel über und legen Rubel zur Bezahlung auf den Tisch.
Der fremde Mann sieht von seiner Zeitung hoch und sagt nur kurz: "Oh, auf Wiedersehen meine Damen. Sie haben übrigens wunderschöne Augen." und richtet seinen Blick dabei direkt auf Olena.
Olena wird rot und sagt nur verschüchtert: "Vielen Dank!"
"Komm!" ruft Nadeschda, die schon draußen wartet. Olena dreht sich um und beide rennen zum Bus, der sie in das Viertel von Nadeschdas Tante bringen soll.


24. Oktober 2002
Olena sitzt in der Küche ihrer Studentenwohnung in St. Petersburg. Während sie frühstückt hört sie im Radio folgende Nachricht:
Am gestrigen Abend des 23. Oktober 2002 besetzte eine Gruppe von bewaffneten und vermummten Terroristen, ca. gegen 21.00 Uhr, während des zweiten Aktes des populären Musicals "Nord-Ost" das Gebäude des Theaterzentrums in der Melnikow-Straße. In diesem Moment befanden sich im Saal über 800 Zuschauer. Die Terroristen schossen in die Luft, wobei sie verkündeten, dass sich Sprengstoff im Gebäude befindet. Sie begannen im Zuschauerraum Bomben zu verlegen...die Geiselnehmer drohen Geiseln zu ermorden, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden...

"Oh mein Gott, was sind das für Menschen??" platzt es aus ihr heraus.


27. Oktober 2002

Olena sieht am Kiosk folgende Schlagzeile:
"Geiselnahme blutig beendet. 130 Geiseln und 40 Terroristen tot. Darunter auch ihr mutmaßlicher Anführer:
Boris Tschechow."
© by Fabian Tietz

1 Kommentar:

  1. Lieber Fabian,

    deine Geschichte hat was. Sie könnte jeden Tag passiern, nicht nur dort, auch hier.
    Da trifft man einen Menschen, einen sympatischen, dem man sofort seine Tagträume schenkt und dann fällt man in Ohnmacht, weil er sich als *Unmensch* (ein sehr zartes Wort für Verbrecher!!) entpuppt...

    Wir sehen es keinem an, was er ist, was er denkt, wie er fühlt...

    Ich finde deine Geschichte sehr treffend gelungen, denn sie könnte jedem von uns passieren...

    ..einen feinen Sonntagabend noch für dich;-9

    herzlich, Rachel

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