(überarbeitet 11.02.2010)

Künstliche Stille

Die Klingel scheppert in einem grässlichen Ton. Ich höre wie sich das Schlurfen des Künstlers in seinen durchlöcherten Filzlatschen der Tür nähert. Der Boden seiner Altbauwohnung ist grau. Parkett aus dem Jahre Neun des vergangenen Jahrhunderts. Immer wenn ich vor seiner Tür stehe, kann ich es kaum erwarten dieses geschichtliche Holz zu betreten. So viel Menschenstaub in seinen Ritzen.
Die Tür öffnet sich vorsichtig nach innen. Der Künstler bittet mich wortlos hinein. Ich klopfe meine Schuhe vor der Schwelle ab und mache den ersten Schritt in seinen Flur. Immer habe ich das Gefühl, als betrete ich diese Räumlichkeiten zum ersten Mal. Es ist wie eine wiederholte Entjungferung der Luft. Seitdem die Regierung mich zur kulturellen Überwachung beordert hat. Jede Woche. Und jeden Tag.
Der Künstler schweigt.

Ich dränge mich im schmalen Flur an ihm vorbei. Mein Mantel streift beinahe den in roter Farbe getränkten Pinsel in seiner rechten Hand. Ruhig und stumm klagend schließt der Künstler hinter mir den Eingang. Aus Gewohnheit gehe ich zielstrebig durch den Flur in das Atelierzimmer. Vorbei an der Waschküche und dem stets verschlossenen Schlafzimmer des Künstlers. Schlafzimmer von Künstlern sehen meist sehr spartanisch aus, da sie wenig Wert auf ein stilvolles Ambiente in ihren Intimgemächern legen. Künstler schlafen schlecht. Ich habe schon viele Künstler kennengelernt. Und auch ihre Schlafzimmer gesehen. Auch zumindest eine ihrer vielen Frauen. Doch in dieses Schlafzimmer gelang mir noch nie die Gelegenheit eines Blickes.
Auch eine Frau habe ich noch nicht in diesen Räumen riechen können.

Als ich das Atelierzimmer betrete, steigt mir der Geruch von Leinwandkleber in die Nase. Ungewöhnlich. Sonst waren es immer die chemischen Dünste frischer Farbe.

Ich lasse wie gewohnt meinen Mantel an und setze mich in den einzigen Sessel, neben der Balkontür. Eine überdimensionale Leinwand ist gegen ein leeres Bücherregal gelehnt. Etwa Drei mal Zweimeterfünzig. Sie ist unbemalt. Weiß. Jede Leinwand in diesem Raum hat er, der Künstler, selbst gebaut.
Der Künstler betritt den Raum.

Rechts neben mir steht ein voller Aschenbecher. Die Zigarettenstummel ragen wie stumpfe Igelstacheln aus dem muffigen Gefäß. Ich rauche nicht.
Der Künstler steht etwa zwei Meter vor der Leinwand. Mit dem Pinsel. Seine einzige Hand ist blass. Am linken Unterarm des Künstlers ist nur noch ein Ansatz seines Handgelenks zu erkennen. Der Rest wurde ihm abgehackt. Es waren meine Leute. Sein Verschulden.
Die Roten haben uns aus dem Land gejagt. Uns den Glauben genommen. Meine Hoffnung.

Der Künstler öffnet ein Farbgefäß. Er bevorzugt metallene Töpfe. Ich stelle ihm einmal im Monat ein Dutzend vor die Tür. Die Farbe besitzt eine bessere Qualität und ist kräftiger in ihrer Intensität. Hergestellt in der Staatsfabrik.

Mit einem Stock rührt er sachte im Gefäß die rote Farbe, bis sie geschmeidig ist und einheitlich glänzt. Er tunkt seinen Pinsel vorsichtig in die dicke Flüssigkeit und setzt ihn an der Leinwand an.

Die Finger meiner rechten Hand streichen sanft über den Lauf der Tokarev in meiner Manteltasche. Mit dem Zeigefinger wandere ich die Kurve des Abzugs entlang. Die Pistole ist gesichert. Heute ist der Tag an dem ich mich für das Leid revanchieren werde. In meinen Gedanken entsteht wieder das Bild aus rot bemaltem Marmor. Ein kalter Steinboden in rote Farbe getränkt. Sie fließt. Und irgendetwas pocht. Dort lag sie. Ich versuche das Bild aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich bekomme Angst und mein Puls hebt sich. Meine Hand verkrampft sich zur Faust um den Griff meiner Waffe. Ich nehme ein paar lange, leise Atemzüge. Der Künstler darf sich nicht gestört fühlen. Meine Anspannung löst sich ein wenig. Faust bleibt Faust.

Durst. Ich werde hier nichts trinken. Noch nie habe ich in diesen Räumen etwas getrunken. Es widert mich an. Es muss auch dieses, das letzte Mal genügen.
Der Künstler malt.

Ich blicke aus dem Fenster. Ein fliegender weißer Hase über den Dächern. Wolken. Es war kühl auf dem Weg hierher. Doch der Schnee schmilzt, es ist glatt. Im Haus gegenüber steht eine Frau auf einem Balkon. Sie blickt zur Straße hinunter. Raucht. Sie könnte hübsch sein. Mir fehlt die Brille. Doch ihre Silhouette und ihr schulterlanges, lockiges Haar lassen viele Illusionen zu. Ihr Haar ist dunkel, mehr kann ich nicht erkennen.

Mein kleiner Finger reibt entlang der rauhen Gravierung am Griff der Pistole. Es ist die Seriennummer. Ich versuche sie zu ertasten. Ich gebe auf.
Ich ziehe die Hand leise aus der Manteltasche. Ohne Waffe. Ich richte meinen Blick zur Leinwand. Sie wird immer mehr vom Rot durchtränkt. Es gibt keine Muster. Der Künstler mag keine Muster. Für ihn gibt es nur eine Farbe. Er ist einfarbig. Er ist rot. Alle Bilder sind rot. Nur Rot. Dunkelrot.
Der Künstler seufzt.

Es gibt viele Käufer. Die Nachfrage nach dunkelrot bemalten Leinwänden ist groß. Fast jeder besitzt eine. Wenn nicht, dann bald. Staatliche Vorgabe. Wenigstens ein gestempeltes Orderformular sollte man haben. Harte Restriktionen.

Meine Hand wandert wieder in die Manteltasche zu den dreiundreißig Kalibern. Meine Stirn ist angespannt. Mein ganzer Körper fühlt sich an, wie ein einziger kontrahierter Muskelstrang. Ich versuche mich wieder zu entspannen und blicke erneut aus dem Fenster. Nach dem Hasen fliegt nun ein weißes Segelboot über dem Balkon vorbei. Die Dunkelhaarige ist nicht mehr da. Notarztsirenen werden immer lauter. Mein Trommelfell schmerzt noch immer. Seit Monaten. Der Widerstandskampf.
Blaues flackerndes Licht bleibt unter dem Balkon stehen. Ich höre die Schiebetür des Notarztwagens. Laute hysterische Stimmen. Vielleicht ist sie gesprungen. Vermutlich war sie schön. Vergänglich.
Diese Stadt ist krank. Sie verflucht jeden einzelnen, der in ihr lebt.
Ein Knarzen lenkt meinen Blick zurück auf den Künstler. Er hat sich auf seinen Schemel in der Mitte des Zimmers gesetzt und blickt nun auf das halbfertige Bild. Pause.
Der Künstler raucht.

Ruhephasen dauern bei ihm nie lange. Für das Bemalen einer Leinwand dieser Größe benötigt er ungefähr eine Stunde. Sein Pinsel ist klein. Einen größeren möchte er nicht.
Er sieht mager aus. Das Leinenhemd an seinem hageren, schlaffen Körper riecht nach Schweiß. Er kommt nie raus. Eine Haushälterin kauft normalerweise für ihn ein, doch sie sitzt seit eineinhalb Wochen in Untersuchungshaft. Sein Kühlschrank ist leer. Seit drei Tagen raucht er nur noch und trinkt Leitungswasser. Seine Hand zittert wenn er die Zigarette an seinen Mund führt. Doch sein Blick ist klar. Er ist alt. Die Zigarette ist aus.
Der Künstler steht auf.

Er nimmt wieder seinen Pinsel in die Hand und bearbeitet die zweite Hälfte. Ich bekomme Kopfschmerzen. Ich muss dringend trinken, sobald ich hier raus bin. Draußen immer noch menschliches Stimmengewirr. Blaulicht. Erneut die Schiebetür. Die Sirene ertönt zusammen mit einem lauten anfahrenden Motorengeräusch. Es geht wohl in die Notaufnahme. Das Blaulicht gleitet an der Hauswand entlang und verschwindet. Die Sirene wird leiser. Dann Stille. Vereinzelt ein kurzer Schrei. Vielleicht ihre Schwester.Wenn sie gesprungen ist, wird sie es nicht schaffen. Fünfter Stock.

Dreiviertel hat der Künstler schon geschafft. Dieses Rot. Meine Augen brennen. Ich fühle den scharfen Übergang zwischen Magazin und Grifföffnung. Auf der gegenüberliegenden Seite der Seriennummer ertaste ich den Stern. Die Pistole ist gut verarbeitet. Russische Meisterarbeit. Mein Puls steigt plötzlich wieder. Mein Blick ist auf den Boden geheftet. Eine Zeitung liegt zerknittert neben einer, mit roten Flecken übersäten, Malerhose. Nur zwei Wörter der Titelschlagzeile sind zu erkennen: "...Präsident...Exil ver...". Die Ausgabe muss mindestens drei Monate alt sein. Wieder der rote Marmor in meinem Kopf. Vor drei Monaten fand ich sie. Tot.
Unser gestürzter Präsident berief mich zwei Tage später persönlich zum Agenten. Eine neue Identität unter Roten. Meine Gelegenheit. Rache.

Ich mache Anstalten aufzustehen, möchte mir die Zeitung ansehen, doch plötzlich hält der Künstler inne. Die Leinwand ist fertig. Sie ist rot. Der Künstler legt seinen Pinsel in die Schatulle mit dem Lösungsmittel und setzt sich wie immer auf seinen Schemel. Wie jede Woche. Er beendet, zumindest während meiner Anwesenheit, stets auf die gleiche Weise seine Arbeit. Er legt den Pinsel in die Schatulle, setzt sich auf den Hocker und zündet sich eine Zigarette an. Das ist sein Ablauf, das ist sein Ritual. Nach jeder Leinwand. Eine Zigarette.
Der Künstler schweigt.

Meine Finger schmiegen sich um den Griff der Tokarev. Bevor ich aufstehe blicke ich noch einmal aus dem Fenster. Keine Wolke. Ich hebe meinen Oberkörper nach oben und drücke die Knie durch. Ich nähere mich von hinten dem Künstler, während ich die Pistole aus der Manteltasche ziehe und sie entsichere. Zwei Schritte hinter ihm bleibe ich stehen. Ich hebe meinen rechten Arm und richte die Waffe direkt auf seinen Kopf. Er weiß was geschieht. Er wusste es immer. Er war dabei als sie getötet wurde. Vielleicht war er es, der geschossen hat. Dieses Rot! Es macht mich wahnsinnig!
"Steh´ auf!" flüstere ich. Der Künstler nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. Dann richtet er sich langsam auf. "Stell´ dich mit dem Gesicht zur Leinwand!" sage ich still und er geht die drei Meter zu seinem frisch bemalten Werk. Sein Kopf ist aufrecht und die Hand, die seine Zigarette hält, bleibt völlig ruhig. Mein Puls wird unerträglich. Ich spüre das Pochen der Halsschlagader. Ich muss das stoppen. Meine Hände zittern. Mit der linken ziehe ich das schwarz-weiße Bild meines toten Kindes aus der Manteltasche. Es waren die Roten.

"Dreh´ dich um!" pruste ich mit belegter Stimme heraus. Ich schlucke.
Der Künstler wendet sich stockend mit dem Gesicht zu mir.
Ich schaue ihm auf die Brust und hebe meinen Blick stückweise an, bis ich seine Augen erreicht habe. Seine Pupillen sind starr. Die Lider regen sich nicht. Kein Blinzeln.
Meine Lippen sind verkrampft. "Meine Hoffnung...mein Glaube.....", quetsche ich mir aus dem Mund. `Es hat keinen Sinn! Sie ist tot! Erst im Jenseits seid ihr wieder vereint´, pfeift es mir durch den Kopf. Dieses Rot.

Der Künstler beharrt in kühler Stille. Ich beuge langsam den Ellenbogen meines rechten Arms und lege den Lauf der Pistole an meine Schläfe. Dann halte ich das Foto vor meine Augen. Zittern. Nicht nur die Hände, mein ganzer Körper bebt. Meine Tochter, ich will sie noch einmal sehen.

Ich nehme das Foto runter und blicke am Künstler vorbei. Im tödlichen Rot: Ihre Silhouette. Plötzlich ist mein Puls ruhig. Während sich mein Zeigefinger um den Abzug legt, umfassen auch die restlichen noch entschlossener den Pistolengriff. Meine Lippen entspannen sich. Ich werde entkommen. Dich wiedersehen. Alles vergeben. Ich drücke ab.

© by Fabian Tietz

2 Kommentare:

  1. JA, mein Freund!
    Das ist eine Kurzgeschichte...eine wunderbare, offensichtlich Großtadt(entfremdung) tut dir gut (deine Allererste war mehr eine Reportage)

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  2. Super Fab!
    Gefällt mir sehr! Keine Langatmigkeit, das rechte Quantum Gefühlswechsel. Hut ab!

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