Orientierung

Zu welcher poetischen Richtung ich zu zählen sei, auf diese Frage kann ich nicht antworten, es sei denn, man nimmt nach Belieben "zu keiner" oder "zu meiner" als eine Antwort. Ich bin überzeugt davon, dass die Entwicklung, Entdeckung oder Erfindung neuer Arten zu dichten heute notwendig ist, notwendiger als in einer Zeit, in der die Begriffe "Entwicklung", "Entdeckung", "Erfindung" und "neu" einen geringeren Wert haben. Man muss es begrüßen, dass es heute Dichter gibt, die neben ihrer Fähigkeit, solche neuen Arten des Dichtens auszubilden, auch das Ordnungsbedürfnis besitzen, welches sie nach Gattungsnamen für neuartige poetische Gebilde suchen lässt. So fand und erprobte man die Namen "Konkrete Poesie", "Konstellation", "Visueller Text" und andere, oder spricht ganz allgemein von "experimenteller Dichtung". Ich übernehme solche Namen, sobald ich mit ihnen umgehen kann, gerne, um über eigene oder fremde Arbeiten nachzudenken und zu reden. Mir selbst gelang es nur einmal - 1957 - für eine Reihe eigener Texte einen wenig originellen Namen - "Sprechgedichte" - zu finden, der die damit bezeichneten Erzeugnisse charakterisierte. Die Beibehaltung der ehrwürdigen Benennung "Gedicht" für diese ehrfurchtlosen sprachlichen Gebilde hatte dabei die hier angedeutete Nebenaufgabe zu erfüllen. Im übrigen schrieb und schreibe ich "Texte", deren Einordnung ich anderen überlasse, in einer auf verschiedene Weise aus dem gewohnten in ein ungewohntes Gleichgewicht gebrachten Sprache.

Ernst Jandl
(26.11.1964)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank für Ihren Kommentar!